Die sechste Heimniederlage in Folge gegen Fulham und eine weitere Leistung, die niemanden zufriedenstellen kann. Liverpool befindet sich in einer richtigen Krise – und sie ist zum Teil auch selbstgemacht.

Kommentar von André Völkel
Durchschnittliche Lesezeit: 9 Minuten

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Es ist zum Haareraufen! Die Reds waren furchtbar, zeitweise erbärmlich. Nicht nur gegen Everton. Auch gegen Chelsea. Und vor allem gegen Fulham. Aber eigentlich spielen sie mit zwei Ausnahmen in London seit Ende 2020 nicht mehr konstant – nach ihren und unseren eigenen Standards. Und haben dazu noch viel Pech!

Liverpool spielt wie ein zahmes Kätzchen mit einem Wollknäuel, wenn sie eigentlich ihren Gegnern die Stirn bieten müssten. Wir müssen die letzten Wochen analysieren, allerdings die Kritik an das Team so lenken, um konstruktiv zu bleiben. Wir müssen gemeinsam herausfinden, warum die stärkste und aggressivste Mannschaft, die wir je im roten Trikot mit dem legendären Liverbird auf der Brust gesehen haben, all dies scheinbar „verloren“ hat oder nicht mehr abrufen kann.

O Liverpool where art thou?

Wo ist das Team geblieben, dass uns so viele Jahre konstanten Spaß und größtenteils guten Fußball gebracht hat? Wo sind die Tore? Wo ist die Kreativität und der Druck im Mittelfeld? Woher kommen die Leistungseinbrüche, die symbolische Kopfhänger nach einem Rückstand? Wo sind unsere Mentalitätsmonster?

Erklärungen haben wir derzeit zuhauf, denn sie sind eklatant offensichtlich. Wir haben eine ganze lange Liste. Und mit jeder Erklärung kommen neue Theorien hinzu. Aber die wahren Ursachen liegen aus meiner Sicht weitaus tiefer und sind schwerer zu begreifen – wahrscheinlich auch schwerer zu lösen.

Die horrenden Verletzungen des ersten Teams sind sicherlich eine erster guter Ansatz. Fast die komplette erste Mannschaft (außer die Stammspieler im Sturm) war schon einmal diese Saison ein paar Wochen verletzt. Leistungsträger wie van Dijk und Gomez fallen komplett aus. Der Kapitän ist derzeit verletzt. Der Vize-Kapitän war es ebenfalls. Spieler spielen außerhalb ihrer Stammpositionen.

Das Team hatte bisher wenig Zeit überhaupt richtig zu trainieren. Ein Großteil der letzten Monate in Kirkby wurde regenerativ trainiert. Wann willst du als Team eigentlich neue Taktiken lernen, wenn du alle zwei bis drei Tage ein Spiel hast. Und vor allem, wenn wichtige Akteure fehlen.

Meine Vermutung ist, dass die Vorsicht vor weiteren Verletzungen im Team sicherlich auch zu zusätzlichen mentalen Druck führt. Das sieht man auch bei den Spielern, die nach einer Verletzung zurückkommen. All diese Faktoren führen zu einer taktischen Instabilität.

Hinzu kommen Covid-19-Infektionen, die vor allem dem neuen Mittelfeld-Impuls Thiago neben seiner Verletzung aus dem Derby komplett aus dem Rhythmus gebracht haben. Diogo Jota wird hoffentlich nach seiner Verletzung schneller wieder zurück in die Spur finden. Aber auch hier darf man zunächst keine Wunder erwarten.

Reds zahlen für Sparsamkeit den Preis

Der Liverpool FC zahlt den Preis dafür, dass man es versäumt hat, eine eklatante Schwäche zu Beginn des Januar-Fensters adäquat zu beheben. Doch schon nach den Verletzungen von Van Dijk und Joe Gomez hätten die Reds aktiv werden müssen. Das war im Oktober bzw. Anfang November

Stattdessen kämpfte man angesichts der knappen Kassen mit dem, was man hatte, bis die schwere Verletzung von Joel Matip vier Tage vor Ablauf des Transferfensters dazu führte, dass man doch noch aktiv wurde. Es war zwar nicht zu spät für Schnäppchen wie Ben Davies und Ozan Kabak, aber wer weiß, was noch möglich gewesen wäre.

Wären Davies und Kabak allerdings schon Anfang Januar zum Team dazugestoßen, hätte man sicherlich jetzt schon genügend Einarbeitungszeit gehabt.

Ich bleibe dabei – kein Team in der Geschichte des Fußballs kann dieses Verletzungspech kompensieren oder einplanen, was den Reds diese Saison widerfahren ist. Niemand!

Und ich bleibe auch dabei, dass das Team mit 29 Spielern am Anfang der Saison vollkommen ausreichend war!

Und ich glaube auch, dass Liverpool mehr Geld in die Hand genommen hätte im Januar, wären zum Beispiel Lyon oder Leipzig bereit gewesen ihre Leistungsträger jetzt schon abzugeben. Das entschuldigt trotz allem nicht, dass hier eine große Chance verspielt wurde!

Ich war aber auch in meiner Januar-Analyse noch relativ vorsichtig. Ich habe Team und Manager vertraut und darauf gehofft, dass wir erneut mit jungen Spielern ein Wunder vollbringen könnten.

Surreale Innenverteidiger-Situation

Die Defensive ist allerdings weiterhin anfällig. Und das zeigt wie tief die Probleme sitzen, die sich nicht mehr nur in einer Liste abarbeiten lassen. Kabaks Leistung ist noch zu unberechenbar und sicherlich ist es für keinen Spieler, der nicht Van Dijk ist, einfach, fast jede Woche mit einem anderen Partner gegen die besten Offensiven Englands zu spielen. Ozan versteht seine Rolle noch nicht. Dafür braucht er wie jeder Spieler Zeit und viel Training. Das ist vollkommen normal und nachvollziehbar.

Unverständlich bleibt allerdings weiterhin, wieso die Reds so hoch und offen stehen beim Angriff, als würde der niederländische Leuchtturm hinten stehen. In der aktuellen Form ist es kein Wunder, dass die meisten Tore aus Kontersituationen entstanden sind und von schnellen Gegenspielern. Die Gegner wissen sehr wohl um unsere Schwäche!

Im Mittelfeld fehlt uns der Biss und die Kreativität. Das Aufbauspiel ist schwach und langsam. Keiner trägt wirklich das Mittelfeld, wenn Henderson nicht da ist. Eine Aufgabe, die Curtis Jones diese Saison noch nicht komplett übernehmen kann.

Wijnaldum ist laut Klopps Aussage der aktuell wichtigste Spieler im Team, aber sicherlich ist der baldige Abschied ein positiver Faktor für die Leistungen zwischen Defensive und Offensive. Oxlade-Chamberlain ist noch nicht im Rhythmus. Naby Keita ist zurück, jedoch fehlt es auch ihm derzeit erstmal noch an der Routine. Gegen Fulham war er allerdings für die Redmen Family der beste Spieler auf dem Platz.

Fehlentscheidungen und Fehleinschätzungen

„Wir müssen in den entscheidenden Momenten bessere Entscheidungen treffen“. Das hat Jürgen Klopp nach dem Chelsea-Spiel gesagt. Machen wir doch dort weiter! Die Leistung der Offensive und die Handhabe von Klopp ist ein weiterer kritikwürdiger Punkt, dessen Klimax beim Spiel gegen Chelsea zu sehen war.

Es war seltsam vom Boss gerade Salah auszuwechseln. Obwohl auch der Ägypter nicht auf der Höhe war, fragt man sich, warum wechselt man einen Spieler aus, der als einziger die Leistung abrief in dieser Saison. Salah führt trotz fragwürdiger Leistungen die Torschützenliste der Premier League an.

Klopp hatte zwar eine Erklärung, die aber vielleicht nur die Hälfte der Wahrheit entspricht. Salahs Defensivarbeit war schlecht. Das gefiel dem Trainergespann nicht. Salahs Agenten missfiel diese Auswechslung und mit einem Tweet, der nur einen Punkt enthielt, befeuert er damit weitere Befürchtungen und Transferspekulationen im Sommer.

Firmino schafft es derzeit nur auf 6 Tore in 37 Spielen. Nur vereinzelte Funken von brillanten Momenten, vom Systemsprenger und wichtigsten Spieler auf dem Platz, der die Räume schafft für die Tore. Sadio Manés Leistungen sind derzeit noch nicht so sehr in der Kritik, dabei ist die Form des Senegalesen sehr besorgniserregend. Er verschätzt sich oft und ihm fehlt die Kaltschnäuzigkeit aus den letzten Jahren.

Der Offensive fehlt es an Aggressivität, Dynamik, frischen Ideen und der Kraft Spiele zu drehen. Und so erreicht aktuell kaum einer in der Mannschaft ansatzweise die Leistungen, zu der sie fähig sind.

Verletzungen und törichte Sparsamkeit sind nur ein Teil der Geschichte. Die bitteren Nächte gegen Chelsea, Everton, Fulham, City, Burnley und Brighton haben gezeigt, dass es hier um noch viel mehr geht.

Festung Anfield brennt

Das Team wirkt teilweise leblos und uninspiriert. Wir sehen wachsenden Erwartungsstress durch die schwierigen Leistungen. Wir lesen und hören den Druck von Außen. Er spiegelt sich in Trainer und Spieler wider, auf dem Platz und in den Interviews. Wir sehen ein Team, dass „den Kopf zu schnell hängen lässt“, wie es Robertson sagt.

Ich fange jetzt nicht an den VAR noch mit reinzubringen. Es wurde schon zuviel über dieses unsägliche Werkzeug geschimpft. Auch von meiner Seite. Vor allem im Scouserfunk Podcast. Dafür spare ich mir einen anderen Tag am Ende der Saison auf.

Die Reds waren in den letzten acht Spielen in Anfield unterirdisch – egal ob VAR-Entscheidung für oder gegen. Von 118 Schüssen gingen nur 28 direkt aufs Tor. Gegen Chelsea waren es insgesamt nur ein Torschuss! Stattdessen ließ man 70 Schüsse zu, die zu 17 Großchancen und zu elf Toren führten. Zum Vergleich: Liverpool erspielte sich nur neun (!) Großchancen. Daraus ergaben sich nur zwei (!) Tore und eines davon war ein Elfmeter.

Liverpool ist derzeit nicht annähernd gut genug für das, was sie eigentlich sein sollten. Sie sehen aus, als haben sie ihre Spritzigkeit und Dynamik verloren. Und ihren Zufluchtsort Anfield, in dem sie so lange ungeschlagen waren, wie kaum ein anderes Team. Ihnen fehlen die Fans, das sieht man! Ihr Glaube, dass sie über sich herauswachsen können und jedes Team der Welt besiegen können, hat einen herben Schlag erlitten.

Klopp und das Team brauchen Lösungen, keine Ausreden, wenn sie etwas aus den Trümmern dieser Saison retten wollen. Das erste Mal, seit Klopp Manager der Reds wurde, wirkt Liverpool für mich langweilig, schwach, frustrierend und flach. Jeder einzelne im roten Trikot muss sich leider jetzt durch diese Krise durchbeißen. Und wir können sie nicht mal am Spielfeldrand unterstützen.

Vielleicht hilft ja doch eine Länderspielpause. Für Training, für die Erholung. Ein Reset um die Last abzulegen. Es braucht einen oder vielleicht sogar mehrere Lichtblicke. Erfolgserlebnisse, die den Glauben wieder zurückholen, dass hier noch etwas möglich ist! Sei es in Form von Toren, in Rückkehrern, in konstanten Leistungen. Ich weiß es nicht.

Never Give Up!

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Wir sind alle erschöpft, sowohl das Team, als auch die Supporter. Ich bin erschöpft von allem. Von der Pandemie, vom sterilem Produkt ohne Fans im Stadion, fehlender Pause und dem zu eng-getakteten Spielplan. Und sicherlich auch von der Sonderstellung des Fußballs. Und wenn das Team dann noch schlecht spielt, ist es doppelt anstrengend.

Wir können alle nur hoffen, dass es in den kommenden Wochen keine Kurzschluss-Reaktionen gibt von „oben“, denn die Qualität dieses Teams und des Trainergespann sind unbestritten. Bisher sieht auch nichts danach aus, mag man den Worten der Besitzer und denen des Trainers Glauben schenken.

Und die Saison ist noch nicht vorbei! Unsere Mentalitätsmonster sind verletzlich. Das wissen wir jetzt. Doch auch ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass noch nichts entschieden ist. Und so außergewöhnlich (miserabel) diese Saison für den Fußball ist, so bleibt am Ende die Hoffnung, dass in der nächsten Saison alles wieder besser laufen wird.

Die Supporter müssen diese Leistungen nicht akzeptieren allerdings ändert sich nichts für sie! Sie müssen jetzt für das Team da sein, obwohl es nur über „Social Media“ möglich ist und selbst zu Mentalitätsmonster werden.

Alle müssen, nicht nur das Team und unser Jürgen, akzeptieren, dass manche Dinge außer ihrer Kontrolle liegen. Es ist eine Saison, wie wir sie wahrscheinlich in den letzten 30 Jahren nicht erlebt haben. Und bald kommt der Sommer. Was da passieren wird, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.


Liverpools Konflikt im Transferfenster

Kolumne: der LFC ist reif für eine Veränderung

YNWA – 2 Minuten und 38 Sekunden Magie


Liverpools Identität ist „Intensität“. Sie wirkt derzeit nicht auffindbar und „Never Give Up“ und „You’ll Never Walk Alone“ wirken in diesem Kontext für einige sicherlich abgedroschen, doch beide Pfeiler der Liverpool Fan- und Klubkultur sind aktuell wichtiger denn je. Und die Intensität, die man von den Reds gewohnt ist, kommt sicherlich bald wieder.