Kommentar von Robin Wittwer: Stehen ist eines der Normalsten Dinge im Leben. In den beiden obersten englischen Fußball-Ligen ist es gleichwohl nicht erlaubt. Es ist höchste Zeit, eine Debatte über Safe Standing zu führen und Vorurteile auszuräumen. Vor allem in Liverpool ist dies aber alles andere als einfach.
In England und auch in Liverpool wurde bei Fußballspielen lange gestanden. Anfield verdankt seinen Ruf dem alten Spion Kop, wo von 1906 bis 1994 phasenweise bis zu 30’000 Kopites standen. Es war eine majestätische Tribüne mit genau 100 Stufen, die wegen der enormen Lautstärke und dem Humor der Scouser weltberühmt wurde. Der heutige Kop ist ein Überbleibsel einer Zeit, in der der Spion Kop bestimmte, wo es lang ging. Shankly liebte den Spion Kop – es war die perfekte Kombination zwischen seinem Ethos und der Leidenschaft der Scouser. Die 80er Jahre veränderten allerdings alles. Hillsborough kam und erschütterte Liverpool bis ins Knochenmark.

In den Stehplatztribünen der Leppings Lane starben 96 Liverpool-Fans. Nach langer Aufarbeitung wurde eindeutig bewiesen, dass die Liverpool-Fans keinerlei Schuld an der größten Tragödie in der Geschichte des englischen Fußballs hatten. Die Polizeit versagte, die Menschen zu schützen. Die Überlebenden, sowie die Familien der Opfer kämpften Jahrzehntelang für Gerechtigkeit und mussten unerträgliche Lügen über sich ergehen lassen. Bis zum heutigen Tag wurde niemand für Hillsborough zur Rechenschaft gezogen. Der verantwortliche Polizeikommandant David Duckenfield wurde erst kürzlich nach zwei Gerichtsprozessen freigesprochen – ein Hohn für die Familien. Die psychische Last der Hinterbliebenen ist noch immer enorm. Sie verdienen jede Hilfe, die sie bekommen können.
Keine Stehplätze mehr in England
Was hat das alles mit Safe Standing zu tun? Hillsborough war der letzte Nagel im Sarg für Stehplätze in England. Der Taylor Report, ein Bericht, welcher die Hillsborough-Tragödie untersuchte, empfahl als Konsequenz die Abschaffung aller Stehplätze. Es wurde argumentiert, dass dadurch die Fans besser kontrolliert werden könnten und das es sicherer sei. In der Folge wurden in den beiden höchsten Spielklassen die Stehplätze durch Sitzplätze ersetzt. Es wurde sogar illegal, zu stehen. Der Spion Kop wurde 1994 abgerissen und durch den heutigen Kop ersetzt. Die Kapazität wurde dadurch drastisch reduziert – der Kop ist leider längst nicht mehr die größte Tribüne Anfields.

Damals wagte verständlicherweise niemand, sich gegen diesen Schritt zu wehren, denn Hillsborough war immer noch zu frisch in den Köpfen der Leute. Hillsborough war zwar nicht der einzige Grund zur Abschaffung der Stehplätze, wohl aber der Hauptgrund. Es gab schon zuvor Überlegungen von Seiten der Offiziellen dazu.
Die Fans wollen stehen
In den ersten Jahren nach der Einführung von ‚all seater stadiums‘ wurde es aber offensichtlich, dass die Leute hinter den Toren nicht sitzen wollen. Bis heute und auch in Zukunft stehen vor allem hinter den Toren die Fans – manchmal auch in den unteren Rängen des Main Stands und Sir Kenny Dalglish Stand. Vor allem während wichtigen Spielen steht der Kop durchgehend. Die Gründe dazu sind offensichtlich – beim Stehen ist man mehr involviert und emotionaler. Es fällt auch leichter zu singen und eine Atmosphäre zu kreieren. Jedes Mal, wenn es in Anfield laut wird, kann man sicher sein, dass der Kop steht und nicht sitzt. Sitzplätze haben in gewisser Weise die Atmosphäre ruiniert, denn sitzen ist eine unnatürliche Position, um zu singen.
Zudem kann es gefährlich sein, in Sitzplätzen zu stehen. Wir haben das alle schon erlebt: Beim Torjubel kann man schnell mal das Gleichgewicht verlieren und in die vordere Sitzreihe fallen. Sei das, weil man von hinten gestoßen wird oder so dermaßen jubelt, dass man selbst nach vorne stürzt. Mit Safe Standing ist das unmöglich, denn man wird von den horizontalen Stangen gestützt.
Im Juli 2017 führte die Fanvereinigung „Spirit of Shankly“ unter Liverpool-Fans eine Umfrage durch, ob die Leute Safe Standing wollen oder nicht. 88 % der Befragten sprachen sich dafür aus, was zeigt, dass Safe Standing auch in Liverpool große Unterstützung hat. Wegen der hohen Sensitivität bezüglich Hillsborough entschloss sich „Spirit of Shankly“ allerdings, sich nicht aktiv für eine Einführung von Safe Standing zu bemühen. Bei jeder Diskussion für die Einführung von Safe Standing in Liverpool müssen auf jeden Fall immer die Betroffenen von Hillsborough mit einbezogen werden.
Safe Standing ist sicher
Die alten Terrassen im englischen Fußball sind nicht mit Safe Standing zu vergleichen. Vor jeder Reihe verhindert eine horizontale Stange, dass die Fans nach vorne stürzen können. Jeder, der schon mal in einem solchen Sektor gestanden ist, kann bezeugen, wie sicher Safe Standing ist.
Das Prinzip ist simpel: Die Sitze werden hochgeklappt und in Position gehalten. Bei Spielen unter der Leitung der UEFA, welche Stehplätze wohl noch länger nicht erlauben wird, können die Sitze einfach wieder heruntergeklappt werden.
Der Spion Kop stürzte jeweils beim Torjubel wellenartig nach vorne. Sowas kann bei Safe Standing nicht geschehen. Die horizontalen Stangen verhindern dies. Bei den alten Terrassen war es auch schwieriger, die Anzahl der Fans im Griff zu haben. Bei Safe Standing ist das ganz einfach, denn jeder hochgeklappte Sitz entspricht einem stehenden Fan. Es ist also unmöglich, dass zu viele Fans in einen bestimmten Bereich kommen, wie einige Kritiker befürchten.
Der politische Wille muss folgen
Safe Standing geht natürlich nicht nur Liverpool etwas an, unser Verein hat jedoch wegen Hillsborough eine besondere Stellung. Andere Premier League Clubs versuchten bereits, Safe Standing einzuführen, scheiterten aber an der Gesetzeslage. Celtic Glasgow installierte 2016 mit großem Erfolg Safe Standing. In Deutschland funktioniert es seit Ewigkeiten und einige Stadien in der MLS haben es auch bereits freigegeben.
Das Einzige, was noch fehlt, ist die politische Umsetzung. Doch auch dort tut sich etwas: Die sozialdemokratische Labour Party sowie die konservative Regierungspartei, die Tories, haben ihre Unterstützung für Safe Standing in ihr Parteiprogramm aufgenommen.
Die britische Regierung gab zudem einen Bericht in Auftrag, welcher die aktuelle Lage bezüglich der Machbarkeit von Safe Standing untersuchen sollte. Dieser Bericht kam zum Schluss, dass weitere Forschung notwendig sei, um eine informierte Entscheidung treffen zu können. So heisst es zum Beispiel, dass noch mehr Daten erfasst werden müssten zu verbotenem Stehen in Sitzplätzen. Erfahrungen aus anderen Ligen zeigen aber deutlich, dass Safe Standing absolut sicher ist.
Der Kop soll wieder zum Spion Kop werden
Es bleit unklar, ob und wann Safe Standing eingeführt wird. Zudem ist die Hürde dazu in Liverpool wohl um einiges höher als bei anderen Vereinen. Damit es in Anfield eine Chance haben wird, müsste sich Safe Standing anderswo in der Premier League wohl schon etabliert haben.
Das Kernanliegen ist und bleibt, dass die Fans die Wahl haben sollten, ob sie sitzen oder stehen wollen. Natürlich würde nicht im ganzen Stadion Safe Standing installiert, sondern nur in bestimmten Sektoren. In Anfield wäre es eine sensible Entscheidung, den Kop wieder stehen zu lassen. Die Atmosphäre würde sich verbessern und die stehenden Fans nicht mehr kriminalisiert. Eine positive Nebenerscheinung wäre auch, dass der LFC für Safe Standing Plätze die Ticketpreise reduzieren müsste.
Es ist Zeit, etwas zurück zu holen, was uns für so lange vorenthalten blieb: Das Recht zu stehen. Die natürliche Position, um die Reds zu supporten. JFT 96