Wenn am Sonntag im Old Trafford Michael Oliver das Spiel freigibt, geht es ohne Übertreibung um alles. Es ist nicht nur eine bittere Schlacht um das psychische Wohlbefinden der Fans, sondern auch eine Gelegenheit, dem Rivalen einen Schlag in das Selbstvertrauen zu verpassen, von dem niemand so schnell wieder aufsteht.

Alle, die irgendwelche Sympathien für United haben, würden absolut nichts lieber tun, als Liverpool am Sonntag ordentlich in die Suppe zu spucken. Eine Niederlage der Reds wäre tatsächlich nicht nur verheerend für die Tabellensituation, sondern auch für das Selbstverständnis, nach 29 Jahren endlich wieder die Meisterschaft an die Mersey zu holen. Gewinnen die Reds, wäre das auf der anderen Seite ein herber Schlag für die Top Vier Hoffnungen Uniteds.

In der Nebenhandlung geht es auch um das alte und neue Manchester. Der generelle Konsens in Uniteds Umfeld ist, dass sie es viel lieber sehen würden, sollte Manchester City Meister werden. Die Verschiebung des Manchester-Derbys auf Ende April bringt nur noch mehr Würze ins Spiel. Die alten Wunden der beiden Nordwestgiganten sind immer noch nicht verheilt und werden es auch nie – sei es auf dem Rasen oder aus vielfältigen Gründen abseits davon.

Zur historischen kommt am Sonntag sportliche Signifikanz hinzu

Um eine Partie der beiden grössten Vereine Großbritanniens zu finden, in der es um soviel ging wie diesen Sonntag, muss man fünf Jahre zurückblättern. Es war März 2014, als die Reds im Old Trafford gastierten. Liverpool kämpfte wie jetzt um die Meisterschaft, während United in der ersten Saison nach Alex Fergusons Abgang im Niemandsland der Tabelle herumdümpelte. Die Reds gewannen 3:0, was für den weiteren Verlauf der Saison enorme Kraft freisetzte.

MANCHESTER, ENGLAND – MARCH 16: Steven Gerrard of Liverpool celebrates scoring the second goal by kissing the steadicam during the Barclays Premier League match between Manchester United and Liverpool at Old Trafford on March 16, 2014 in Manchester, England. (Photo by Alex Livesey/Getty Images)

Auch wenn in den letzten Jahren immer weniger Lokalspieler im Nordwestderby spielten, weckt die aktuelle Ausgangslage wieder Erinnerungen an vergangene Tage. Marcus Rashford, Jesse Lingard sowie Phil Jones stammen alle aus der Region. Ashley Young ist schon sehr lang bei United und kennt die Rivalität. Die lokalen Liverpooler sind Trent Alexander-Arnold und Ben Woodburn.

Hinzu kommt, dass der neue United-Trainer Ole Gunnar Solskjaer das Nordwestderby aus seiner Zeit als Spieler bestens kennt. Ferguson flüstert dem Norweger im Hintergrund immer noch Dinge in die Ohren ein und gibt zu verstehen, dass er alles unternehmen muss, um die Reds zu stoppen. Schliesslich will Ferguson nicht, dass sein Lebenswerk diesen Mai ins Wanken gerät. Solskjaer ist auch nicht dafür bekannt, über Liverpool positive Worte zu verlieren. Dabei hat Solskjaer in einem Interview zugegeben, als Kind Liverpool-Fan gewesen zu sein. Alter schützt vor Torheit nicht.

In der jüngeren Vergangenheit war dieses Spiel vor allem wegen der historischen Brisanz relevant. Am Sonntag kommt noch die sportliche Situation hinzu – dies ist das perfekte Rezept, damit es ein wildes Spiel wird.

Ferguson-Schüler mit formstärkster Mannschaft, Liverpool muss sich beweisen

Seit Mitte Dezember und dem letzten Aufeinandertreffen Liverpools und Uniteds in Anfield, welches die Reds mit 3:1 souverän gewannen, hat sich viel verändert. José Mourinho wurde infolge dieser Niederlage entlassen und Solskjaer als vorübergehender Trainer bis Saisonende ernannt. Der Norweger ist ein Schüler Fergusons und praktiziert eine sehr ähnliche Spielphilosophie wie Liverpools alter Antipode. Die United-Fans hoffen, dass Solskjaer mit einem Heimsieg die Vereinsführung überzeugen kann, ihm einen langfristigen Vertrag anzubieten und Fergusons Schule weiterzuführen. Für Liverpool gäbe es nichts süßeres, als diese Wunschvorstellung zu zerstören sowie Solskjaer als langfristige Lösung abzuschießen. United-Trainer können es sich generell nicht leisten, zuhause gegen Liverpool zu verieren.

Bisher geben zumindest in der Premier League die Resultate Solskjaer Recht. Acht Siege und ein Unentschieden machen United zur formstärksten Mannschaft der Liga. Am Sonntag kommt aber ein anderes Kaliber in die Stadt und wird alles daran setzen, das Old Trafford ins Theater der Albträume zu verwandeln. Liverpools Bilanz im Old Trafford ist für die Reds-Fans nicht zu ertragen. Ein Sieg dort würde wie 2014 enorme Kräfte freisetzen und die gesamte Fanbasis träumen lassen.

Seit dem Übertritt ins Jahr 2019 läuft es den Reds nicht mehr so rund wie zuvor. Drei Siege, zwei Unentschieden sowie eine schmerzliche Niederlage gegen den Titelkonkurrenten Man City sind nicht die Resultate, welche die 19. Meisterschaft einbringen werden. Gegen diese Blockade gibt es keine bessere Medizin als ein Sieg auswärts beim alten Erzfeind. Genau das, was der Arzt verschrieben hat.

Van Dijk nach Sperre zurück, United mit Verletzungssorgen in der Offensive

Virgil van Dijk, unbestrittener Leader der Liverpooler Abwehr, kommt nach seiner Gelbsperre im Champions League-Spiel gegen Bayern München wieder direkt in die Mannschaft. Für Jürgen Klopp ist das eine fantastische Nachricht, denn infolgedessen kann Fabinho wieder ins Mittelfeld rücken. Dejan Lovren und die Langzeitverletzen Joe Gomez, Alex Oxlade-Chamberlain und Rhian Brewster sind noch verletzt.

WOLVERHAMPTON, ENGLAND – DECEMBER 21: Virgil van Dijk of Liverpool celebrates after scoring his team’s second goal of the game during the Premier League match between Wolverhampton Wanderers and Liverpool FC at Molineux on December 21, 2018 in Wolverhampton, United Kingdom. (Photo by David Rogers/Getty Images)

Jesse Lingard und Anthony Martial, die sich beide während dem Champions League Spiel gegen PSG verletzten, könnten für das Liverpool-Spiel ausfallen. Die Situation ist aber nicht eindeutig und so sind alle möglichen Permutationen vorstellbar. Für United wäre der Ausfall der beiden Flügelstürmer ein herber Rückschlag, denn beide gehören seit Mourinhos Rauswurf zu den formstärksten Spielern.

Klopp: „Ich spreche mit meinen Spielern nicht über Geschichte“

Der Reds-Trainer wurde auf der Pressekonferenz auf die Historie dieses Spiel angesprochen und entgegnete, dass er in der Spielvorbereitung nicht darüber nachdenke:

„Wir bereiten uns nur auf ein Fußballspiel gegen einen sehr guten Gegner vor und das ist es dann auch. Mehr können wir nicht tun – ich kann den Spielen nicht die ganze Geschichte dieses Duells erzählen. In den entscheidenden Momenten müssen wir sowieso unser Bestes geben und wir können das Spiel nicht grösser machen, als es ist.“

LIVERPOOL, ENGLAND – AUGUST 17: (THE SUN OUT, THE SUN ON SUNDAY OUT) Jurgen Klopp manager of Liverpool during a training session at Melwood Training Ground on August 17, 2017 in Liverpool, England. (Photo by John Powell/Liverpool FC via Getty Images)

Des Weiteren wurde der deutsche gefragt, wie sich die Spieler inmitten des Meisterschaftskampfs angesichts dessen fühlen, dass die beiden grössten Rivalen Everton und United alles versuchen, Liverpools Titelambitionen zu begraben:

„Mit Bayern [in der Champions League] ist das nichts Persönliches, sie wollen einfach so erfolgreich wie möglich sein. Ich weiss nicht, ob es United als Plus ansieht, mit einem Sieg gegen uns, unsere Titelchancen zu mindern. Es ist so oder so ein großes Spiel, so war es immer und wird es immer sein.“

Zumindest für die Fans treffen diese Aussagen definitiv nicht zu. Es gibt nichts schöneres, als den rivalisierenden Fans nach einem Sieg einen Seitenhieb zu geben. Die Geschichte dieser Rivalität macht diese Nickligkeiten intensiver sowie emotionaler als sonst.

Solskjaer schilderte auf der United-Pressekonferenz seine Sichtweise auf den emotionalen Aspekt des Spiels:

„Für sie [Liverpool] ist es ein großes Spiel, genauso wie für uns. Wir spielen gegen Liverpool – wir wissen wie groß dieses Spiel für United ist, für den Staff und die Fans.“

Reds müssen Offensivfeuerwerk in der Startphase überstehen

Auswärtsfahrten ins Old Trafford blieben in der Vergangenheit meistens für die lauten Auswärtsfans in Erinnerung, aber aus Liverpooler Sicht leider nicht für Siege auf dem Feld. Was aber auffällt, ist, dass wann immer die Reds um die Meisterschaft kämpften, sie im Stadion des Erzfeindes gewinnen konnten.

MANCHESTER, UNITED KINGDOM – APRIL 22: Liverpool fans celebrate victory following the FA Cup Semi-Final match between Chelsea and Liverpool at Old Trafford on April 22, 2006 in Manchester, England. (Photo by Ben Radford/Getty Images)

Um diese ermunternde Statistik weiterzuführen, muss Klopps Team die wahrscheinlich furiose Startphase der Hausherren überstehen. Vorbei sind die Tage Mourinhos und van Gaals, wo Uniteds Herangehensweise sehr defensiv war. Die Spiele dieser Zeitperioden waren haarstäubend und frustrierend – David de Gea mutierte jeweils zum Supermenschen. Solskjaer betonte mehrmals, dass er diese unwürdige Spielphilosophie ablegen will und in den bisherigen Spielen konnte er dies auch beweisen.

In der Startphase wird Liverpools Schlüssel zum Erfolg in schnellen Kontern liegen. Es ist zu erwarten, dass United ähnlich wie in der Champions League gegen PSG von Anfang an früh pressen wird. PSG überstand diese Druckphase und profitierte davon, dass Lingard und Martial verletzt runter mussten. Dadurch verlor United viel Geschwindigkeit auf den Flügeln und PSG konnte damit beginnen, zu dominieren, denn sie mussten nicht mehr so viel Ressourcen zur Konterabsicherung abstellen. In der zweiten Halbzeit zeigte dann Kylian Mbappé, was Geschwindigkeit ausmachen kann. Liverpool hat mit Sadio Mané und Mohamed Salah auch sehr schnelle Spieler und kann dadurch viel von PSGs Herangehensweise lernen.

Wichtige Rolle der Außenverteidiger

Die United-Fans werden von Beginn an lautstark fordern, dass ihre Spieler attackieren, denn das ist ihr Selbstverständnis, vor allem im Old Trafford. Uniteds Aussenverteidiger werden sich immer zweimal überlegen müssen, ob sie es wirklich riskieren wollen, sich in die Angriffe einschalten zu wollen. Sollten Lingard und Martial tatsächlich ausfallen, wird es für Andrew Robertson sowie Alexander-Arnold weniger risikoreich, offensiv mitzuwirken. Die möglichen Ersatzleute Juan Mata, Alexis Sanchez oder Romelu Lukaku sind keine Konterspieler, denn sie haben nicht die nötige Geschwindigkeit. Trotzdem müssen die Reds auf den gefährlichsten United-Spieler, Rashford, aufpassen. Letzte Saison erzielte der junge Engländer beide United-Tore in einer bitteren 1:2 Niederlage für die Reds.

LIVERPOOL, ENGLAND – DECEMBER 16: Naby Keita of Liverpool battles for possession with Marcus Rashford of Manchester United during the Premier League match between Liverpool FC and Manchester United at Anfield on December 16, 2018 in Liverpool, United Kingdom. (Photo by Clive Brunskill/Getty Images)

Im Mittelfeld gilt es für die Reds, Paul Pogba zu neutralisieren. Dies wird wahrscheinlich Fabinhos Aufgabe sein, denn der Brasilianer hat die physische Präsenz, dem Franzosen zu begegnen. Pogba ist der Spieler, der im United-Mittelfeld die Fäden zieht und torgefährlich ist.

Lukakus Präsenz war bei Liverpools Niederlage letzte Saison einer der entscheidenden Faktoren. Er verlängerte bei beiden United-Toren de Geas lange Abschläge auf Rashford, der dann hinter Alexander-Arnold kam. Lovren wurde von Lukaku tyrannisiert und der Belgier gewann beinahe jedes Kopfballduell. Am Sonntag werden die Reds mit van Dijk/Matip die Lufthoheit haben – im Falle eines Ausfalls von Lingard und Martial gilt es also, Lukaku die Bälle wegzuköpfen.

Erwartete Aufstellungen

Liverpools Verteidigung und Angriff sind so gut wie in Stein gemeisselt. Im Mittelfeld streiten sich sechs Reds um drei Startplätze. Da United wahrscheinlich mit Ander Herrera startet, der spielerisch ekligste Gegenspieler, den man sich vorstellen kann, müssen die Reds dagegenhalten. James Milner ist der Spielertyp, der genauso wie Herrera ein ‘Shithouse’ sein kann. Ein Meister der dunkeln Künste – Zeit schinden, Schwalben begehen, den Schiedsrichter beeinflussen, taktische Fouls begehen und generell alle unfairen Mittel zum eigenen Vorteil nutzen.

MANCHESTER, ENGLAND – MARCH 10: Jose Mourinho of Manchester United and Jurgen Klopp of Liverpool look on during the Premier League match between Manchester United and Liverpool at Old Trafford on March 10, 2018 in Manchester, England. (Photo by Laurence Griffiths/Getty Images)

Fabinho dürfte seinen Platz auf sicher haben. Im letzten Spiel gegen United in Anfield zeigte er eine enorm starke Leistung und verbuchte einen Assist. Neben ihm wird wahrscheinlich Georginio Wijnaldum auflaufen. Vor allem für die spielerische Komponente ist der Niederländer unersetzbar und er wird zentral sein, wenn die Reds das Spiel mit Ballbesitzphasen beruhigen wollen. Naby Keita ist nach seinem Auftritt gegen Bayern München auch ein heißer Kandidat, um mit Tempo auf Uniteds Ketten zuzulaufen. Trotzdem wird Klopp wohl nicht auf Kapitän Jordan Henderson verzichten.

Das Mittelfeld ist wegen der Auswahl an Spielern schwierig vorherzusagen. Klopp könnte sich für diese Mannschaft entscheiden (4-3-3):

Alisson; Alexander-Arnold, Matip, van Dijk, Robertson; Wijnaldum, Fabinho, Henderson; Salah, Firmino, Mané

United könnte mit dem folgenden Team anfangen (mit der Annahme, dass Lingard und Martial nicht fit sein werden):

De Gea; Young, Bailly, Lindelof, Shaw; Herrera, Matic, Pogba, Mata; Lukaku, Rashford

Richtungsweisendes Spiel

Ohne Zweifel wird diese Partie einen grossen Hinweis darauf geben, in welche Stadt der Premier League Titel diese Saison hingehen wird. Sicher ist, dass sich diese Stadt im Nordwesten befindet – ein Flashback an vergangene Zeiten. Alte Sentimentalitäten kommen hoch, die es für die eigenen Zwecke zu nutzen gilt. Liverpool braucht große Kampfkraft, um das Old Trafford zu erobern. Fergusons Flüsterer müssen verstummen und die Reds Richtung Meisterschaft marschieren. Für Liverpool gibt es nichts Schöneres, als nach einem glorreichen Sieg die machtlosen Gesichter der United-Fans zu sehen. Dafür lohnt es sich, zu kämpfen.

TV Hinweis

The spider camera is seen as players warm up for the English Premier League football match between Manchester United and Manchester City at Old Trafford in Manchester, north west England, on December 10, 2017. / AFP PHOTO / Oli SCARFF 

In Deutschland, Österreich und der Schweiz wird das Spiel live auf dem Streamingdienst DAZN übertragen. Spielbeginn ist Sonntags um 15:05 Uhr MEZ.